lebensvermessen
(fanciulli di girolamo)
als – erinnert euch! – vor
nicht allzu vielen jahren es
in städten und
in den dörfern
auf den märkten die
es alle noch gab
auch den senf noch gab
der nicht einfach noch
dazu gegeben wurde
sondern mit bedacht
und auf wunsch
zu bock- oder bratwürsten da
gab es noch kinder
die ungehörig verspätet
mit flecken vom gewünschten
senf auf ihren altertümlich
unintelligenten nicht
plattformvernetzen irgendwie
und manchmal sogar tatsächlich
selbstgestrickten kleidungsstücken
nach Hause kamen
wo sie daraufhin empfangen wurden
empfangen immerhin
mit vorwürfen elterlicher liebe
die beide damals erlaubt und
wahrhaftig noch durchaus
üblich waren
könne man nicht besser
aufpassen und wieso
wieder so getrödelt wo
sei man denn gewesen
wolle man unbedingt
die geduld oder
nerven auf proben stellen
oder schlimmeres gar
und da schworen sich die kinder
die es damals noch gab
heimlich aufzubrechen los weg
bloß auszubrechen heute
gibt es das nicht mehr da
der allgegenwärtige
appgott auf uns in uns
herabfährt aus seiner allumfassenden
wolke viel heiliger als jeder geist
nicht nur zu pfingsten uns
immer wieder
aufs niemehrpausenbrot seine
allüberlegene weisheit
unergründlich zu schmieren
kein schmecken
kein senf keine wurst
schon gar keine extra
auch keine märkte mehr
städte oder dörfer
kein selbstgestricktes
kein selbst
verficktes kein eigenes
versehentliches
und noch weniger
ein absichtliches
zuspätkommen kein getrödel
keinerlei flecken mehr
alles sauber lebensvermessen
alles rein erkannt biometrisch
bereinigt gesichert die totale
sonde kümmert sich
um uns zentral
im tiefen netz optimierung
unserer stimuli notwendig
absolut zur pflege
der alles gut gemeinschaft
getrackt gescort geordnet nah
und fern und feingesteuert
führen die einstigen kinder
mit heiligstem elektrischen eifer
im namen des einzig wahren
planetengerechten
ihre arrestzelle
über den bußtod
hinaus mit sich herum als
ihre eigenen gefängniswärter
(aus: "planetenlieben" von Jamie Konrad)
Gedanken zum Gedicht
Befasst man sich im ersten Gang durch das Gedicht nicht weiter mit dem Titel und folgt man gutmütig der Aufforderung „erinnert euch!", steigen mit den Zeilen Merkmale der Kindheit und Jugend irgendwo zwischen den späten 50ern und den frühen 80ern in einem auf: Die Konsistenz des zum x-ten Mal mit Essig neu verflüssigten Senfes auf Märkten und Dorffesten, die unverwüstlichen Polyesterstrickpullis, das Spielen auf der Straße, die Ermahnungen im Ohr, pünktlich zum Abendessen daheim zu sein. Man spürt das eigene wohlige Sonnen im Früher-war-alles-besser, denn wir hatten ja noch eine richtige Kindheit und Eltern, die auf uns warteten, und heute geht alles per App, und Märkte gibt es auch nicht mehr.
Aber etwas stört das Schwelgen in der Vergangenheit – der Rhythmus des Gedichtes treibt einen vor sich her, „kein selbst verficktes“ sperrt sich. Also liest man von vorne, beginnt beim Titel: „Lebensvermessen“ ist zweideutig, denn „vermessen“ kann einerseits in Zahl und Maß erfasst bedeuten und andererseits überheblich, mit unangebrachtem Anspruch. Die "fanciulli di girolamo" sind jene Kinder und Jugendlichen, die Girolamo Savonarola im 15. Jahrhundert massenhaft aufhetzte, in Florenz im Fegefeuer der Eitelkeiten Bücher, Kunst, Musikinstrumente, Schmuck und vieles mehr zu verbrennen, was er und (durch ihn) ebenjene Kinder für verkommen hielten. Savonarola und seine zornige Moralstürmerei ereigneten sich im Zeitalter der Renaissance in Europa, nachdem zuvor Marco Polo aufgebrochen war, um eine Ahnung von der Ausdehnung und der Macht des chinesischen Kaiserreiches, der Welt, des Himmels und der Erde und also der Beschränktheit der von nun an erschütterten europäisch-mittelalterlichen Provinz zu bekommen. Die Renaissance: ein Zeitalter der Umbrüche, Weltenstürme, Unruhen, Pestillenz, Kriege und Ängste und gleichzeitig ein Zeitalter der Errungenschaften, der Künste, des Geldes und des technischen Fortschritts.
So beschleicht einen die Ahnung, es könnte gar nicht nur um Kindheit vor einigen Jahrzehnten gehen, sondern um Kindheit überhaupt (also auch in der Zukunft), um Kindheit mit der immer wiederkehrenden Überzeugung, mit der immer wiederkehrenden Lebensvermessenheit, es in jedem Fall besser zu machen als die Eltern.
Weg von den Vorwürfen elterlicher Liebe sind jene geflohen, welche die Lebensvermessung ihrer selbst und ihrer Nachkommen zu verantworten haben: wir sind komplett erfasst nach Zahl und Maß, wir und unsere Kinder sind per App überwacht, überwachen uns auch gegenseitig. Wir sind vermessen, weil unsere Daten gespeichert und ausgewertet sind und werden. Und wir sind vermessen, weil wir einmal mehr mit religiösem Ernst und fester Überzeugung bestimmen wollen, was richtig ist und was falsch, was gut ist und was schlecht, was nützlich ist und was unnütz. Wir folgen einem „einzig wahren planetengerechten“ – man horche nur in sich und seine Moral hinein, man schlage nur die Zeitung auf, wo man jede Menge großartige Moral-Aktivisten und Moral-Aktivistinnen findet, und lausche den Weisheiten, die einem pausenlos („niemehrpausenbrot“) serviert werden. Wir sind verführt und verblendet wie die Kinder des Savonarola, wir sind Maurer und Wächter unserer eigenen Gefängnisse und unserer Unfreiheit.
In der Form und auch dadurch, dass alles klein geschrieben ist, erinnert das Gedicht an die Art, wie Kurznachrichten verfasst werden: als Einzeiler, ohne Rücksicht auf Groß- und Kleinschreibung, in der Regel ohne Interpunktion, allenfalls mal ein Ausrufezeichen.
81 Zeilen/Verse sind 9 x 9 Zeilen/Verse – im Chinesischen steht die Zahl 9 für die Ewigkeit, für das „für immer“, für das Göttliche, für das Unantastbare, für das von Gott und vom Himmel gewollte Kaiserliche. Im europäischen Mittelalter stand die 9 für die besonders heilige, unantastbare dreimalige Dreifaltigkeit.
So ernst das Gedicht, so fein zwei kleine Inseln des Humors: Der „appgott“, wie er in diesem Gedicht „auf uns in uns“ herabfährt, trägt klanglich den Abgott in sich, den Götzen, den Fetisch – und natürlich sind es zwei Paar Schuh der Ehrerbietung, ob etwas auf uns herabfährt wie der Zorn Gottes, oder in uns herabfährt wie das Essen, das wir verdauen...
Das einzige Wort, das in den 81 Zeilen (1981 bricht das erste Space Shuttle ins All auf) groß geschrieben ist, ist „Hause“. Wer dächte hier nicht an E.T., der heimwehgeplagt nach Hause telefonieren wollte?