Hätten wir
wäre ich mutiger
gewesen bei constanze
damals
hätten wir einen sohn gehabt
und zwei töchter vielleicht
hätten wir glucksend unsere gesichter
versenkt in ihr babyduftendes juchzen
hätten wir
draußen nach ihnen gerufen
wie nach unseren träumen vom
uns
vom leben das wir nie leben
weil uns der mut fehlt bis es endet
und auch ganz zum schluss verlässt
da wir nichts mehr
schenken können.
(aus: "planetenlieben" von Jamie Konrad)
Gedanken zum Gedicht
„Hätten wir“, wer kennt sie nicht, diese Eingangsformel der verpassten, vergebenen Lebenswege?
Welchen Verlauf hätte das eigene Leben genommen, wenn man zu dieser oder jener Gelegenheit anders entschieden hätte, bedingungsloser Chancen in Ereignisse verwandelt hätte? Ohne Frage danach, was die anderen wohl von einem halten?
In diesem Gedicht wird die Frage nach eigenen Kindern ins Zentrum gerückt. Sprecher der Zeilen, folgt man einfachen Gegebenheiten, ist ein Mann. Ein interessantes Detail, wird Kinderlosigkeit doch in Statistiken vornehmlich als Frauensache verhandelt. Es gibt lediglich einen Mikrozensus, der sich die Kinderlosigkeit der Männer anschaut. Dessen Ergebnis: Mehr Männer als Frauen ab 20 Jahren sind kinderlos, nämlich 35% gegenüber 25%.
Bedauert wird, bei Constanze, der Beständigen, nicht den Mut gehabt zu haben, einen Sohn zu zeugen, einen Stammhalter im archaischen Sinne möglicherweise? Und, wie nachgeschoben, zwei Töchter vielleicht. Ist ein Aspekt der Mutlosigkeit die Sorge darum, dass die erotische Zweierbeziehung abgelöst wird von einer babyduftenden Glucks- und Juchzwelt und der pausenlosen Aufsichtspflicht? Ein Eindruck, der sich durch die Zeilen verstärkt „hätten wir / draußen nach ihnen gerufen / wie nach unseren träumen vom / uns. Aber vielleicht ist auch etwas ganz anderes gemeint und verbirgt sich im weiten Raum der Möglichkeiten hinter der scheinbaren Engführung in den Gedichtzeilen: Die Suche nach Unsterblichkeit in einer Kette von Nachgeborenen, die Suche nach Sinn durch die Sinnhaftigkeit des Kindergroßziehens, die Suche nach dem Abenteuer des Sichverschenkens an Menschen, die man liebt (oder lieben könnte).
Das Nachdenken über die Mutlosigkeit mündet in die Erkenntnis, dass möglicherweise das ganze Leben zu leben versäumt wurde, bis es einen zum Schluss genauso verlässt wie der Mut. Am Ende gibt es nichts mehr zu schenken.
Das Gedicht ist aufgeteilt in acht Strophen: vier einzeilige und je zwei zwei- und vierzeilige Strophen. Die Zwei- und die Vierzeiler wechseln sich ab und werden durch die Einzeiler voneinander getrennt. Die Zweizeiler sind wie unvollendete Sätze, die Vierzeiler ergeben in sich abgeschlossene Gedanken. Der erste Vierzeiler beschreibt, wie es mit gemeinsamen Kindern hätte sein können, der zweite bringt die Resignation zum Ausdruck, die bis zum Tod, bis zum "nichts mehr" an einem klebt, wenn man im Mutlosen verharrt.
Die Einzeiler, für sich gelesen, fügen sich zu dem doppeldeutigen Satz: „Damals hätten wir uns schenken können.“
Der Rhythmus des Gedichtes erinnert an eine Tanzstunde oder das Einüben eines Musikstücks: Fluss, Abbruch, neuer Ansatz, Fluss, Abbruch. Der wechselnde Rhythmus und die Unterbrechungen fangen die Schwierigkeit des geordneten Denkens ein, wenn man mit sich ins Gericht geht. Dabei klingt das Gedicht keine Sekunde resigniert, sondern vielmehr ruhig, bilanzierend, fast verträumt.